Dies Domini – Vierter Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr A
Es dämmert – aber vielen, allzu vielen dämmert es noch nicht in der Kirche. Die Austrittszahlen steigen von Jahr zu Jahr auf neue Rekordwerte, aber es ändert sich nichts. Valide Angaben für die Austrittsgründe gibt es nicht. Gleichwohl sind die Interpreten schnell zur Hand. Meist ist es der unglücklich agierende Erzbischof von Köln, der für die hohen Zahlen verantwortlich gemacht wird. Tatsächlich gibt es zeitliche Koinzidenz zwischen den kirchlichen Ereignissen der rheinischen Metropole und dem Ansteigen der Austrittszahlen; ob die aber korrelieren, geschweige denn kausal für die Progression der Austrittserklärungen sind, müsste denn doch einmal näher hinterfragt werden – auch, weil das für die Ursachenforschung und damit für die Veränderung pastoralen Verhaltens wichtig wären. Kaum vorstellbar, dass in Flensburg oder Bad Reichenhall Menschen wegen einer Kölner Erzbischofs, dessen Namen vielen auf den Straßen Wuppertals, das doch immerhin zum Erzbistum Köln gehört, nichts sagt, Menschen in Scharen der Kirche den Rücken kehren. Für die Stadt Köln mag das noch gelten. Andernorts – in Wuppertal, Kempten im Allgäu oder Kiel, Berlin oder Saarbrücken – kommen wohl noch andere Gründe in Frage: Haben die kirchlichen Akteure vor Ort wirklich noch Kontakt zu den Menschen? Sind sie in den Zeiten der Corona-Pandemie wirklich bei ihnen gewesen – und sei es digital, telefonisch und auf physischer Distanz? Oder hat man sich vor die Kameras zurückgezogen und in leeren Kirchenräumen Eucharistie gefeiert, wie man es halt immer macht – nur eben ohne Menschen. Diese Botschaft ist letztlich fatal: Es lief alles weiter, nur halt ohne Menschen …
Ähnlich verhält sich auch bei den Kirchen, die aus der Reformation hervorgegangen sind. Die Austrittszahlen steigen auch dort mehr oder weniger parallel zu denen in der römisch-katholischen Kirche. Auch dort mutmaßt man die Wirren um den Kölner Kardinal als Grund. Freilich ist, wenn dem so wäre, das doch ein vernichtendes Urteil über die evangelische Identität: Wissen moderne Protestantinnen und Protestanten wirklich nicht mehr, dass sie ja genau deshalb evangelisch sind, weil sie unter anderem das römisch-katholische Amtsverständnis ablehnen und sie deshalb mit Erzbischöfen, Kardinälen und geweihten Priestern eigentlich nichts mehr am Hut haben? Oder verhält es sich nicht eher so, dass die dort ebenfalls hohen Austrittszahlen ebenfalls auf Kontakt- und Beziehungsabbrüche zu den eigenen Mitgliedern hindeuten …
Wie auch immer: Die Kirchen erreichen das Volk nicht mehr – und das Volk braucht die Kirchen nicht mehr. Ritenmanager und Trauerrednerinnen verrichten heute oft bessere und personenzentriertere Arbeit als jene pastoral Verantwortlichen, die den Menschen – im autosuggestiven Bewusstsein persönlicher Erwählung – das Wort Gottes ohne Achtung der Person wie mit nassen Lappen um die Ohren hauen. Wundert sich da jemand, dass die Menschen an lebendigere Orte gehen, wenn dem Priester der Altar allein genügt? Hat sich je jemand gefragt, ob das, was gepredigt wird, nur annähernd an Worte des ewigen Lebens erinnert?
So erleben die Kirchen der Gegenwart ihren eigenen Mauerfall: Die Menschen gehen, weil die, die zu spät kommen, vom Leben bestraft werden. Aber was bleibt übrig?
Die Oberen der Kirche wähnen sich im Bewusstsein des von Christus persönlich Berufenseins auf sicherem Boden. Ihnen scheint die abschließende Seligpreisung aus dem Evangelium vom vierten Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres A in die Hände zu spielen:
Selig seid ihr, wenn man euch schmäht und verfolgt und alles Böse über euch redet um meinetwillen. Freut euch und jubelt: Denn euer Lohn wird groß sein im Himmel. (Mt 5,11f)
Interessanterweise wird diese Seligpreisung nicht zu den acht vorhergehenden gezählt – es ist streng genommen eine neunte Seligpreisung. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass die Verfolgten schon einen Vers vorher seliggepriesen werden:
Selig, die verfolgt werden um der Gerechtigkeit willen; denn ihnen gehört das Himmelreich. (Mt 5,10)
Die semantische Koinzidenz wäre freilich ein Fehlschluss, denn die Subjekte korrelieren nicht: In Vers 10 sind es die Verfolgten allgemein, während sich Vers 11 direkt an die Angesprochenen wendet. Auch die kausalen Zusammenhänge unterscheiden sich: Dort ist es die Verfolgung um der Gerechtigkeit willen, hier die Verfolgung um Jesu willen. Die Unterscheidung von Koinzidenz, Korrelation und Kausalität ist also auch hier von Bedeutung.
Wie auch immer: Es scheint, als würde viele, die sich persönlich berufen wähnen, gerade in der neunten Seligpreisung eine Bestätigung zu finde, wenn es zu Kritik am eigenen Handeln und Reden kommt. Wer sich von Christus persönlich berufen wähnt, ist natürlich gerade nicht verwundert, wenn er geschmäht und verfolgt wird, wenn er sich Kritik und „böser Rede“ ausgesetzt sieht: Ist das nicht gerade ein Ausweis der eigenen Erwählung? Sagt Christus das den Seinen nicht gerade zu und preist sie deshalb selig? So wird die neunte Seligpreisung zu einem Panzer, der immun gegen jede Kritik macht. Darf man sich da wundern, dass sich auch in diesen Tagen nichts ändert? Die Frage nach dem, was gerecht ist und ob die kritikimmun Gewordenen hinter ihren Kirchenmauern überhaupt noch barmherzig und sanftmütig, gerecht und rein im Herzen sind, ja, ob sie überhaupt noch Frieden stiften können in Kirche und Gesellschaft, stellt sich offenkundig gar nicht mehr. Auf die Seligpreisungen betrachtet steht es jedenfalls 1:8 gegen die Kritikverschlossenen …
Stattdessen rettet man sich in der Interpretation des gallopierenden Schwundes der Zugehörigkeit zum Kirchenvolk mit einem Verweis auf den Heiligen Rest. Der scheint auch in der ersten Lesung vom vierten Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres A eine rettende Oase in der Wüste scheinbaren Unglaubens zu sein, wenn es dort heißt:
Und ich lasse in deiner Mitte übrig ein demütiges und armes Volk. Sie werden Zuflucht suchen beim Namen des Herrn als der Rest von Israel. (Zef 3,12f)
Freilich wird dabei übersehen, dass der Heilige Rest Israels die Folge einer Bestrafung Jerusalems im Völkergericht durch Gott ist. Wenige Verse zuvor, die die Lesung gerade nicht verkündet, heißt es dort in einer Rede Gottes:
Ich habe ihre Straßen entvölkert, keiner geht dort mehr umher; ihre Städte sind verwüstet, ohne Menschen, ohne Bewohner. Ich dachte: Sicher fürchtest du mich jetzt, / nimmst dir die Warnung zu Herzen; und alles, was ich ihr auftrug, wird sie immer vor Augen haben. Aber nein, sie begingen immer wieder all ihre schändlichen Taten. (Zef 3,6f)
Übrig bleibt eben der Heilige Rest, der dem Gericht entronnen ist, weil er eben, wie es in Zef 3,12 heißt, demütig (!) und arm (!) ist. Aus dieser Sicht erlebt die Kirche gerade ihr Gottesgericht: Sie wird entvölkert, weil sie ihren Auftrag vergessen hat. Der aber ist, bei den Menschen zu sein, den Armen, den Gefallenen, den Trauernden, den Notleidenden. Statt sanftmütig zu sein, richtet sie über Menschen und deren Leben. Wie aber kommt sie da wieder raus? Das Vertrauen auf den Heiligen Rest ist ja eine Fatamorgana, wenn man die vorangehende Mahnung, die leider ebenfalls in der Lesung ausgelassen wird, vergisst:
An jenem Tag brauchst du dich nicht mehr zu schämen, wegen all deiner schändlichen Taten, die du gegen mich verübt hast. Ja, dann entferne ich aus deiner Mitte die überheblichen Prahler und du wirst nicht mehr hochmütig sein auf meinem heiligen Berg. (Zef 3,11)
Es ist die Überheblichkeit und der Hochmut, die das Problem sind. Die aber entstehen schnell im autosuggestiven Bewusstsein eigener Erwählung. Wer hier hochmutig wird, wird zu Fall gebracht. Wer demütig wäre, könnte Hoffnung haben. Kritik an sich ist deshalb gerade kein exklusives Zeichen der Erwählung; sie ist wohl eher eine Warnung, auf den Pfad Gottes zurückzukehren. Wie gesagt: Bei den Seligpreisungen steht es 1:8. Der selbsternannte heilige Rest ist auf der Verliererstraße. Zeit, die Taktik zu verändern …
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
Lieber Dr. Kleine, einmal wieder den Nagel auf den Kopf getroffen. Und um diesen Kopf geht es ja eigentlich, weil da wirklich nichts mehr herein passt, dass man auch nur einmal die Stimme des Volkes beachten möge. Die Selbstdarstellung am Altar bleibt die wichtigste Arbeit für die meisten Priester. Wir waren wegen eines Jahrgedächtnisses vorige Woche in Neviges und erlebten ein Schauspiel ohne Gleichen und Junge Priester dort, aber da kann man nur raten: Bitte nicht hingehen, da geschieht genau das, wie von Ihnen beschrieben. Ihnen eine gute Woche und weiterhin solche wichtigen Beiträge